Rumpelofen 11

Im Aufsatz „die Wiederholung“ berichtet Kirkegaard davon, dass er vom Salat am liebsten die Salatherzen isst, die äußeren Blätter hingegen den Schweinen überlässt. Natürlich fressen auch die Schweine am liebsten die Salartherzen, genau wie ich und alle Menschen, auch wenn sie nur im Geiste den anderen Schweinen das Herz streitig machen wollen. Vermutlich gibt es ohnehin genug Salat auf der Welt. Auch ich hatte so meine Versuche ins Zentrum vorzustoßen. Mal versuchte ich es in der Mathematik, indem ich das, was zu Beweisen war, so lange einkreiste, oder, um beim Salat zu bleiben, entblätterte, bis nur noch dieser eine entscheidende Schritt zu machen war, der dem Beweis seine Schlagkraft gibt. Oder ich versuchte es mit der Liebe, in Paris, wo eine Frau wohnt, die mich verlassen hat und der ich nachsann.

An einem schönen Frühlingstag fand ich einmal in der Nähe der Bücherstände an der Seine einen Strauß noch brauchbarer Blumen. Zu dieser Zeit habe ich häufiger Frauen die ich grade erst kennen gelernt habe zum Kaffee trinken eingeladen, einfach so, um sie zu treffen. Zu meiner Überraschung sagten alle zu, und nichts ergab sich. Jetzt, in Paris, ohne ein Wort Französisch in der Tasche, wollte ich die Blumen einer Frau schenken, einfach der nächsten die ich Treffe, ohne Worte und ohne jede Absicht. Ich blickte mich um und ging auf die erste zu, den Strauß am ausgestreckten Arm vor mir haltend. Die Frau erschrak und wich aus. Ich kam in Schwung und schaute weiter, versuchte es bei der nächsten, wieder ohne Erfolg, und schließlich ging ich auf jede Frau zu die ich auf dem Weg zur U-Bahn erblickte. Unten auf dem Bahnsteig versuchte ich eine dunkelhäutige, etwas füllige Frau mittleren Alters zu beschenken. Auch sie wich aus, sie lief sogar davon. Ich lief ihr hinterher, vermutlich nur ein paar Schritte, aber in meiner Erinnerung sind es immer mehr Schritte geworden, bis ans andere Ende des Bahnsteigs. Sie blieb stehen. ich Blickte sie an, sie hatte Angst. Ich legte die Blumen zwischen uns auf den Boden, zeigte auf sie, drehte mich um und ging. Ich habe leider vergessen ob sie die Blumen nam.

Von solchen Aktionen habe ich mittlerweile Abstand genommen, denn ich habe gelernt das die Liebe eine Aufruhr ist die andere Quellen hat und es nicht nötig ist weite Reisen zu machen. Es reicht beinahe, in die Kneipe zu gehen und dem Wirt beim Bierzapfen zuzusehen. Auf der Bar steht ein Aschenbecher, ein Teelicht und ein Wasserglas. Ich stelle sie in eine Reihe und fixiere sie abwechselnd. „Teelicht“ sage ich im Geiste zum Teelicht, dann „Wasserglas“ zum Wasserglas und dann „Achenbecher“ zum Aschenbecher, den ich mit beiden Händen sinnierend drehe. Bei genügender Unschärfe kann ich alle drei Dinge auf einmal sehen. Ich versuche mich mit dem Spiel mit Schärfe und Unschärfe zu vergnügen, während neben mir eine Frau, die ich nicht kenne, schweigend Bier trinkt. Ich versuche, den Füllstand des Glases in Beziehung zu meinem Zustand zu setzen, um die Übersicht zu behalten. Eine weitere Vergrößerung des Spektrums scheint mir heute unangemessen. Natürlich, ich könnte mich überwinden, sie ansprechen, nett finden und zum Essen einladen. Wir würden zusammen kochen, Salat und Filet, Wein trinken und rauchen, wieder in der Kneipe lande, dann tanzen, chillen und bei mir oder bei ihr schlafen, es sein lassen oder weiter versuchen, trennen oder an etwas gemeinsames Glauben, an dem man arbeiten muss. Doch Überwindung ist kein Begriff mit dem die Liebe beginnt. Eine Erektion zum Beispiel entsteht nicht durch Anspannung, sondern ganz im Gegenteil durch Entspannung von Gewebe. Erst diese Entspannung lässt das Blut in den Penis fließen. Wenn es mir gelingt, hart bei den Fakten zu bleiben, ist für den Rest des Abends nichts zu erwarten.

Schöner ist es natürlich, wenn die Geschichte mit einer Ahnung beginnt, wenn ich an der Bar sitze und die Frau, die zufällig neben mir sitzt, vielleicht schon einen Schritt weiter ist, denn sie hätte ja auch einen andern Platz wählen können. Es könnte passieren, dass ich nach einem kurzen Blickkontakt nicht mehr in das Spiel mit dem Wasserglas zurückfinde, sondern in den Sog einer Strahlung gerate, die eine Ahnung einer wesensmäßigen Durchdringung des Kosmos sein könnte. Es ist verlockend zu glauben, dass den Kosmos mehr zusammenhält als einfache physikalische Gesetze, und dass diese auf Beobachtungen und Testreihen beruhenden Gesetze Teil eines kosmologischen Ganzen sind. Vielleicht ist die Möglichkeit des Irrtums bei auf Beobachtungen beruhenden Gesetzen mit dem Wagnis der Liebe verwandt, so dass ein physikalisches Gesetz letztendlich seinen Halt in der Liebe findet, oder doch zumindest, dass dieses Wesensgetränkte schwülstige Ganze in der Liebe zu erahnen ist, und dass die Gewalt der Liebe nur das erhabene erschaudern vor der Gewalt und Größe des durchtriebenen Kosmos ist. Wer liebt, klingt sich in die kosmologische Hintergrundstalung ein, die sonst unsichtbar bleibt. Er genießt es vielleicht sogar zu glauben, dass es eine noch weitere greifende, poetische Fundierung der Liebe gibt, so dass die Dinge um einen herum zu sprechen beginnen und alles eine kleine Geschichte zur erwachenden Liebe beisteuern möchten. Wer es erlebt hat, weiß, dass einen diese Geschichten, sollte die Liebe doch ein Ende findet, nicht mehr verlassen werden. Wenn man es ganz nüchtern nimmt und versucht, aus zwei mal Eins die Zwei zu erfinden oder aus der Zwei die beiden Einsen herauszubrechen, oder wenn man den kosmologischen Wesenskern genauer untersucht, der Verdichtung und Differenzierung, Eins und Zwei, zulässt, wird man sich schnell in einer Schlangengrube wiederfinden. Selbst wer mit starkem Freiheitssinn ans Werk geht, wird erblassen, sich auf die frische Luft verlassen müssen, und die Spaziergänge um die Bibliothek zu schätzen lernen. Der Reiz, eine Kosmologische Konstante zu zelebrieren, ist möglicherweise einem ganz banalen Trieb geschuldet, der gar nicht weit vom Wunsch nach Besitz und Rausch und Taumel entfernt ist, dem Wunsch dass etwas passieren mag, dem man sich hingeben kann. Zum Glück gibt es für Abende wie diesen ganz einfache Regeln. Die Regel ist folgende: verabreden, zusammen Salat essen, zwei Tage im Sessel sitzen und Kaffee trinken, und dann wieder anrufen. Alles andere ist dumm.

Zu meinem Ofen pflege ich eine Art Fernbeziehung. Ich denke mir schlicht, dass dieses ganze kosmologische und poetische Gehabe in meinem Ofen wohnt und beim Heizen immer neue Nahrung bekommt. Die Wärme, die entsteht, hält mich im Sessel, während ich die sich wiederholenden Beiträgen im Nachrichtenradio höre. Manchmal denke ich, dass ich das Verhältnis zu meinem Ofen intensivieren sollte um mehr von der Welt mit zu bekommen. Ich würde zu gerne wissen wie es andere Menschen mit ihrem Ofen halten.

Letzen Monat traf ich das erste mal jemanden der auch mal ein Feuerzeug in den Ofen geworfen hat. Bei ihm war es anders. „Es hat nur Puff gemacht, das war alles“ sagte er, drehte sich um und widmete sich seinem Bier. Ich vermute er glaubt dass es auch bei mir nur Puff gemacht hat, und dass ich ein Angeber bin, der Dinge verdreht und Effekte erfindet. Lange habe ich darüber nachgedacht ob er recht hat. Womöglich war es auch bei mir nur ein Puff, der vielleicht den Joghurtbecher und ein wenig Asche aus dem Ofen schleuderte, für die Bananenschale die Kraft nur bis zur Klappe reichte und der Rest um Ofen blieb, und dass es nur meine Schreckhaftigkeit war, die dem Ereignis so viel Bedeutung beimisst. Eventuell sind alle meine poetischen und philosophischen Exkurse, die ich an dieses eine Ereignis binde, nur intellektueller Hochmut, Lüge und schöner Schein, der keine Wahrheit hat nach der es sich zu suchen lohnt. So wie ich es berichte ist die Explosion eine Erschütterung gewesen, die grade eben diese poetische und philosophische Melancholie aufbrechen will, in die ich mich in meinen Gedanken verziehe, und die alles um mich herum erstarren lässt. Und nun auf einmal stehe ich als jemand da, der grade diesen Aufbruch inszeniert, der die Erschütterung selber als poetischen Akt schildert, und so im Moment der Erschütterung der weltfernen Versunkenheit ihren größten Triumph gönnt. Eine Liebe wäre entsprechend nur die Freisetzung der eigenen poetischen Befindlichkeit, die einen Kuss braucht, um auszubrechen und Kontakt mit der Welt aufzunehmen, und dann, nach ersten Erfolgen der Orientierung, sich bereichert zurückzieht. So kommt es, das die Liebe zur Muse wird, die den Dichter an die Welt bindet, aber nicht an den Partner. Der Vorwurf ist, dass ich die Explosion nicht nur im nachhinein umdeute als einen Aufbruch in die Poetischen Welt, einer Rettung des Poetischen aus den verwinkelten Zügen des Ofeninneren. Vielmehr stand die Rettung schon vor der Umdeutung der Explosion fest. Ich inszeniere eine Rettung von meinem Sessel aus, nur um nicht aus dem Haus gehen zu müssen. Eine Umdeutung hätte mir mein Genosse vielleicht verziehen, aber die Inszenierung einer Erschütterung zur Ehrerrettung meiner faulen poetischen Sesselpupserei fand er unerträglich. Dennoch gibt es einen wahren Kern an der Sache, denn die Inszenierung der ganzen Geschichte ist echt. Ich habe es tatsächlich so gemacht wie ich es beschrieben habe und hiermit letztmalig erwähne. Ich machte den Ofen auf, warf den Müll hinein, auch das Feuerzeug und wartete - und wusste nicht was passieren wird, denn es war das erste mal dass ich ein Feuerzeug in einen Ofen warf. Ich bleibe dabei, der Moment in dem ich wartete, war heilig, so wie der Moment, in dem ich einen Kuss wage, wenn meine Lippen sich das erste mal den Lippen einer Frau nähern und ich nicht wissen kann, ob sie den Kopf neigen wird, bevor ich sie erreiche, und so wie der Moment, in dem sie die Gefahr gestattet, in die wir uns gegeben, in dem sie mich gewähren lässt. Möglicherweise ist auch eine Liebe eine poetische Erschütterung, die die Dinge erzittern lässt, wo nicht mehr klar ist wo Innen und Außen ist, was Welt und was poetisches Fundament ist, und was eine angemessene Art der Orientierung in ihr ist.

Trotz des Versuches, mit einer derben List die vermeidliche Klarsicht auf die Dinge zu brechen, gibt es Bewegungen, die überraschen, ohne das man dafür einen Finger rühren muss. Es ist möglicherweise nur eine Frage der Geduld, sich auf solche Bewegungen zu verlassen, oder eine Frage der Zeit, von ihnen verschlungen zu werden. So habe ich neulich von komplizierten Rotationen der Erdachse erfahren, wodurch sich der Frühlingspunkt innerhalb von 25700 Jahren einmal durch die Tierkreiszeichen bewegt. Die sich daraus ergebenden astrologischen Komplikationen übersteigen mein Auffassungsvermögen und irritieren meine Neigung zu Grundsätzen, die ich für fundiert hielt, wenn ich mich dazu entschließe mich an mein Wasserglas zu halten und die Tage wie gewohnt verstreichen zu lassen. Hochzeiten werfen mich genauso aus der Bahn, und jedes Mal, wenn ich davon erfuhr, dass jemand aus meinem näheren oder entfernteren Bekanntenkreis heiratete ging ich in die Kneipe und betrank mich. Ähnlich ist es bei Hochzeiten im Film. Ich habe die Angewohnheit vor Entzücken zu quieken wenn in amerikanischen Liebesfilmen oder deutschen Fernsehserien geheiratet wird. Echte Hochzeiten ertrage ich nur auf der letzen Kirchenbank in Begleitung einer Person die ich umklammern kann wenn es ernst wird. In diesen Momenten wähne ich mich in höchster Gefahr. Vielleicht ist es nötig, sich ein mal im Leben in diese Gefahr zu begeben, um zu wissen, wofür man sich entscheidet. Bei meinem Ofen war es so: Das, was ich in ihn hineinwarf, hat er mir bei der Explosion wieder ausgespuckt. Letztendlich hat mir dieser Versuch, die Liebe zu meinem Ofen zu intensivieren, den Müll und Schund kosmischer Überhöhung vor die Füße geworfen, und die Poetisierung der Liebe hat zu einer Radikalisierung des Materials geführt, aus der sie entspringen sollte. Jetzt sitze ich da mit der geballten Ladung schwelendem Mülls in der Wohnung, habe genau das, wonach ich mich sehnte und habe Glück, dass es mich nicht zerrissen hat. Die Sache ist klarer als zuvor: Ich sitze im Sessel, und der Ofen steht neben mir. Dabei werde ich es belassen, denn jetzt weiß ich besser, mit wem ich es zu tun habe.

Manchmal beobachte ich im Supermarkt wie jemand eine dieser dünnen Plastiktüten für Obst und Gemüse mit abgefallenen oder losen Salatblättern füllt und an der Kasse erklärt sie seien für das Kaninchen. Die Kassiererin greift die Tüte und fühlt, ob in den Blättern etwas festes ist, und wenn sie nichts fühlen kann nickt sie. Das Kaninchen der Kundin könnte von einem Bauern sein, der es wahlweise als Haustier zum lieb haben oder zum mögen als Braten angeboten hat. Vielleicht haben einige Leute erst als sie diese Wahl hatten das Kaninchen lebend mitgenommen und sammeln nun die Salatblätter. Ich habe Lust Kirkegaard besuchen zu fahren, mit ihm in der Küche beim anrichten des Salates zu plaudern, anschließend die äußeren Blätter in eine mitgebrachte Gemüsetüte aus dem Supermarkt zu stecken und damit zu einem Bauern zu fahren, der noch richtige Schweine hat, solche die auf die Wiese dürfen und sich im Sommer im Schlamm suhlen. Ich werde einen Klapphocker mitnehmen und ihnen die Salatblätter hinwerfen, zusehen, wie sie fressen, rauchen, und an diese gottverdammte Unschärfe denken, die die Konturen verwischt wenn der Blick sich weitet.

Achim Wendel, Dezember 2007