Rumpelofen 13

Meine Schallplatten sind nach drei Kategorien geordnet: Ja, Nein und Vielleicht. Die Ja-Platten sind die Sammlung, die Nein-Platten verkaufe ich, und die Vielleicht-Platten sind die Platten die eine Entscheidung fordern, und zwar die, ob ich sie verkaufen soll oder behalten will. Einst hatte ich über 1000 Platten im „Vielleicht“ Bereich. Jetzt, nach fünf Jahren Arbeit, habe ich ihn auf 50 Platten reduzieren können. Diese Platten passten genau an einen frei gewordenen Platz in einem kleinen Regal im Flur, neben dem Wäschesack und dem Staubsauger. Jetzt, da mir die Platten, bei denen ich mir bis zu letzt nicht sicher war ob ich sie behalten soll oder nicht, nicht mehr im Weg stehen, habe ich bereits vergessen, was für welche es eigentlich sind, bei denen mir die Entscheidung so schwer viel. Ich kann ziemlich genau sagen, was für Platten in der Sammlung sind, aber diese 50 sind verschwunden und vergessen, und ich bin froh diesen Platz im Flur für sie frei zu haben.

Entscheidungen treffen zu können oder zu müssen gilt gemeinhin als ein Zeichen der Freiheit, mitunter auch der Weisheit, wenn die Sachlage dürftig ist und die Auswirkungen sich als weitreichend erweisen. Selbst Mathematiker haben entdeckt dass es Momente gibt, in denen eine Entscheidung nicht auf die Gegebenheiten, die sie erforderlich macht, abgeschoben werden kann, sondern Tat und freie Wahl braucht, um zu gelten. Der Versuch, Logik und Fakten zu bemühen, gilt Freunden dieser Freiheit als technokratisches Drückertum, und der scheinbar friedliche Sachverstand als Geschäftsbasis einer Drückerbande, die in der Politik hausieren geht. Mit den Schallplatten ist es etwas einfacher. Ich lege sie auf den Plattenteller, hebe die Nadel von Lied zu Lied, wende das Cover, lese ein paar Angaben, wende es erneut, Versuche an der Mode der Bandmitglieder gefallen zu finden, und schließlich kommen dann ein paar Sekunden in denen gar nichts passiert, ich nicht auf die Musik achte und den Blick, auch wenn er scheinbar auf das Cover gerichtet ist, schweifen lasse, so wie ein Blick, der auf jemanden gerichtet scheint und doch durch ihn hindurch geht, die Augen einen Moment frei gegeben werden, nichts fixieren müssen und dem Hirn Luft lassen. Dann, nach zwei Sekunden, wenn die Augen die Platte wieder scharf stellen, werden die Hände wieder aktiv, die Platte landet links oder rechts oder ganz unten im Vielleicht-Stapel, und die Nächste Platte ist an der Reihe. Der Vorgang wirkt einfach, und dennoch brauchte es Jahre um die Platten abzuarbeiten. Noch immer gibt es einige, die Entscheidungen fordern, die in der Sammlung versteckt sind oder die ich neu gekauft habe, und die zu Problemfällen werden könnten, die mir die Sache verleiden. So kommt es, das ich statt Platten zu hören den Nachrichtensender einschalte und mich mit der Zirkulation des Heizlüfters begnüge.

Ich sitze neben dem Ofen und denke daran, was alles passieren könnte, wenn ich mich aufraffe und irgendwo eingreife, auf Reisen gehe oder Demonstriere, Texte schreibe bevor die Einfälle schal werden oder meine Schallplatten sortiere, wie vielen Entscheidungen ich aus dem Weg gehe und was sich alles bewegen würde. Ich überlege wo die Staubsaugerbeutel stehen die ich vor vielen Jahren zusammen mit meinem Staubsauger gekaunft habe, ob es mir gelingen würde sie zu wechseln, was der Mieter unter mir denken würde wenn ich wöchentlich Staubsauge, ob er mich ansprechen würde und ob ich weiter saugen würde. Ich sitze da und denke wie es ist auf dem Rücken eines großen Tieres zu reisen, eines, das größer als 10 Elefanten ist und einen so großen runden Rücken hat, das die Krümmung es zulässt meinen Ofen und meinen Sessel mit auf die Reise zu nehmen. Die Rote Decke stelle ich mir orientalisch bestockt vor, als Zierde oder Zeichen der Reise, wobei der ursprüngliche Sinn, zu wärmen und zu schützen, in den Hintergrund getreten ist. Jetzt, da ich diesen Hintergrund bei sich belassen will, bemerke ich, wie sich etwas regt, durch die undichten Fenster, eindringt, sich an die Kälte bindet, die auf dem Fensterbrett zu spüren ist, Geräusche erfindet, Bedeutung fordert, näher kommt, bis an die Decke herran, um den Hocker kriecht, auf dem meine Beine liegen, und ich bemerke wie die Vorstellung, auf dem Rücken eines Tieres zu reiten verblasst, und berühre mit meiner Hand den Ofen um zu testen, ob er noch warm genug ist für die Nacht oder ob ich abends noch ein zweites mal heizen sollte.

Letztendlich werde ich aufstehen und Platten sortieren, das Radio und den Heizlüfter anschalten oder wieder ausschalten, eventuell auf die Straße gehen, die Schönhauser Allee meiden oder auch nicht, vielleicht danach erneut ein paar Platten sortieren oder im Sessel sitzen und auf den Abend warten.

Mitunter ist mir der Trubel der Stadt zu viel. Es scheint mir, als ob sich auf der Straße das entläd, was in der Wohnung schaden anrichten würde, und sei es nur das Vergnügen, dass die Sonne und die frische Luft in den Knochen erweck. Es fällt mir schwer den Blick der Geschwindigkeit anzupassen in der um mich herum die Leute laufen oder sprechen. Die Autos hupen bevor ich bemerke das die Situation sie reizen könnte, Kinderwagen weiche ich erst aus, wenn mich ihre Räder an meine Hacken stoßen, und Bekannten begegne ich oft nur, wenn diese mich stubsen und vor meinen Augen in die Hände klatschen. Ich denke daran, wie viel Energie benötigt wird um so viel Bewegung zu erzeugen, denke an Müsli in Biomärkten und Bier in Spätkaufläden, Zigaretten und Schokolade, Adrenalin, Insulin, Nikotin und Alkohol, den Müll und die leeren Flaschen. Die Auswüchse der Energie, die der Schwerkraft entgegentreten, scheinen derart in Rage zu sein dass die Geschwindigkeit ihren Anlass vergessen lässt. Wenn ich all dem nicht folgen kann, begnüge ich mich mit den Spuren, die übrigbleiben, die wie eine Art energetisches Schattenspiel den Trubel in den Straßen bezeugen. Vielleicht ist es nur eine Vorliebe, in diesem Spiel den Spuren mehr Beachtung zu schenken als dem Trubel selbst, oder die Ästhetik der Fährte dem Lauf des Tieres vorzuziehen. Ich laufe langsam, und je langsamer ich werde desto deutlicher bemerke ich den Widerstand, dem die Bewegungen meiner Glieder begegnen. Ich sammle ein was mir gefällt. Pfandflaschen und verlorene Einkaufszettel, Münzen nach denen sich niemand bücken mag und Zeitschriften mit dem aktuellen Kinoprogramm. Ich warte bis die Geschäfte schließen, gehe zu den Arkaden, dorthin, wo die Zeitungsdrücker mich tagsüber mit Probeabbos jagen. Wenn ich nach der Zeitung greife die sie reichen wollen werden ihre Finger plötzlich hart, und für einen Moment ziehen wir beide an der Zeitung. Ich kenne das Spiel, und ich kenne die Stelle, wo Nachts die übriggebliebenen Zeitungen zu finden sind. Material gibt es genug, ich muss nur zugreifen. Mitunter, wenn ich nachts durch die Straßen schleiche, hüpfe ich, einmal, zweimal, gehe dann weiter, im guten Gefühl, auch für einen Moment leicht sein zu können, und zu spüren, das die Muskeln hergeben, was nötig ist.

Zuhause, neben meinem Ofen, wenn es wieder Still ist und die wenigen Geräusche mit Spott von dem berichten was mich auf der Straße beunruhigt, lausche ich, was um mich herum geschieht. Ich ahne mitunter dass sich etwas nähert, wie ein Fremder, der sich frei im Treppenhaus bewegt, der klingeln oder vorbei gehen könnte, der droht, ohne es zu wissen. Die Klappen im Ofen sind nie ganz dicht, immer kommt ein wenig Luft durch die Ritzen zur Glut. Ich stelle mir vor, wie die Luft durch die Ritzen im Fenster über den Boden zieht, zum Ofen hin, dann durch die Ritzen der Klappen, in der Glut verwirbelt wird, aufsteigt, und wieder auf die Straße gelangt. Die Luft zieht durch mein Zimmer ohne dass ich etwas ändern kann, es muss sogar so sein, damit mir warm wird. Ich sitze im Sessel, die Beine auf dem Hocker, und bemerke, wie sich Etwas entscheidet, auf dass ich keinen Einfluss habe. Immer wieder stoße ich auf dieses „Etwas“, dass Macht hat, das sich nicht greifen lässt, unbestimmt bleibt und beim Versuch der Bestimmung verblasst, dieses Etwas, das ich im Ofen wähne, dessen Vertrautheit ich wünsche, und mit dem ich mich gut stellen möchte, um es warm zu haben. Ich befürchte, das dieses Etwas, dass sich entscheidet, das durch die Ritzen dringt und langsam seinen Weg durch die Straßen nimmt, durch Wärme und Reibung zirkuliert, die eigentlichen Entscheidungen trifft, die von Bedeutung sind. Meine Bemühungen, aktiv zu sein, Sport zu treiben und etwas zu bewegen, mich auf der Straße für den richtigen Spaziergang zu entscheiden, für oder gegen die Schönhauser, all das, was in den Trubel eingreift, was ich auf der Straße wähne und dort lassen möchte, wird zum Grund dafür, dass mich die Geräusche, die ich höre wenn ich im Sessel sitze, so nervös machen. Der Ofen, durch den die Luft zieht, scheint mir davon erzählen zu können. Wenn ich ungeduldig werde versuche ich den Dialog mit dem Ofen zu beschleunigen, meine Verstörung dem heim zu zahlen, was ich im Ofen wähne. Aber ein Ofen lässt sich nicht bestechen. Er fordert Geduld im Umgang mit Müll und anderem Brennmaterial, sonst wirft er mir alles wieder vor die Füße.

Achim Wendel, Februar 2008