Rumpelofen 15

Wenn es ums Saufen geht kann mein Vater es nicht lassen immer und immer wieder zu erklären, woran man erkennen kann, richtig betrunken zu sein. Er hat es in seinem Lieblingsbuch gelesen, Tortilla Flat, und dort heißt es, so erzählt er, dass man erst dann richtig betrunken ist, wenn man auf dem Boden liegend nicht mehr das Gleichgewicht halten kann und hilflos mit Armen und Beinen rudert. Diese Geschichte ist, ohne das mein Vater davon weiß, zu einem Motto für genau die Veränderungen geworden, die ich vom Leben erwarte. Denn wenn sich etwas ändern soll ergeben sich ganz Grundsätzlich zwei Möglichkeiten. Die eine ist es, zu rennen, bis der Ort an dem man steht fremd ist, die andere ist es, ins taumeln zu geraten und an Ort und Stelle das Gleichgewicht nicht mehr zu finden. Habe ich die Wahl, so stimme für den Taumel, und ich bevorzuge es, den Joggern von der Parkbank aus zuzusehen, denen es ihnen nicht gelingen will, langsam zu laufen, und die unnötige Anstrengung ihren roten Kopf nicht als Zeichen von Fitness gelten lässt.

Wenn es voll wird im Kaffe Burger, wenn Bänke in der Mitte stehen, wenn ich rechts hinten sitze und mir den Softdrink spare, manchmal, bei bestimmten Lesungen, sehe ich in der Pause junge Leute mit einem Wasserglas auf der halben bankfreien Tanzfläche stehen, als gälte es die Pause einer Opernpremiere mit geistreichem Smalltalk zu überwinden. Das, was ich an Wortfetzen höre, klingt nach strategischen Karriereplanung, so, als gelte es im Kulturbereich das zu schaffen, was anständige Menschen in der Computerbranche leisten können, als gelte es überhaupt den Kulturbereich karrieretauglich zu gestalten um das Geld, das am Markt ist, optimal zu verwerten. Drehbuchschreiber sprechen wie Produzenten, Autoren wie Lektoren, Schauspieler wie Kulturmanager und alle trinken sie im stehen Wasser, während abgehangene Musik von Nick Cave es immer noch schafft, die Aura des verwegenen über die ihre jungen Jahre zersetzende Langeweile zu legen. Es ist so, als seien der Ort an dem sie stehen, die Tapete aus Ostzeiten, das Wasserglas, und die zünftige Strumpfhose zwischen den sauberen Stiefeln und dem Minirock, gestohlen und vergebens. Wenn die Veranstaltung zuende ist verabschieden sie sich, der DJ für die Nacht legt erst mal eine CD ein und genehmigt sich bis die ersten Tänzer eintrudeln einen Cocktail, um in Fahrt zu kommen, und irgendwann wird man vielleicht erfahren wer wieweit gekommen ist. Das Börsenblatt des deutschen Buchhandels wird in seinem Newsticker davon berichten.

Ich hasse die Oper, das Theater und die Sessel, in die man dort gezwungen wird. Ich sitze gerne im Sessel, aber nur freiwillig, und nur in meinem eigenen, und auch nur, weil er neben meinem Ofen steht, dort, wo es unmittelbar warm ist, und sich nicht die trockene Luft der Klimaanlage im Saal mit dem dezenten Parfümgeruch von Bildungsbegeisterten mischt.

Wenn ich abends im Sessel sitze und ich es nicht schaffe das Radio auszuschalten, passiert es, dass ich an einem Radiofeature hängen bleibe oder einer Mischung aus Freejazz und moderner Klassik zuhöre bis ich bemerke wie eine Lähmung, die wie ein ästhetischer Elektroschock meine Glieder durchzieht, sich in die Ruhe schleicht die ich vom Abend neben dem Ofen erhoffe und die Behaglichkeit vergiftet, in die ich entschwinden will. Es ist als ob die Schwingungen aus den Boxen der Stereoanlage der Luft in meinem Zimmer eine Konsistenz geben die der im Theater ähnelt. Diese Nächte sind es, die mich aus dem Haus treiben, die Berliner Straße hoch, nach Nordend, Blankenfelde, Schildow – so weit, dass es sicher ist, in dem Moment, an dem meine Kraft erschöpft ist, von der nächsten Haltestelle weit entfernt zu sein, und es Stunden dauert bis der erste Bus am Morgen zurück in die Stadt fährt. Erst dann, nachts, in den Wäldern des Mühlenbecker Landes, merke ich, wie die schmerzenden Muskeln sich in ihrer Ermattung wieder auf den Körper besinnen können und ich wieder an den Heimweg denken kann. Ich sitze an der S-Bahnstation Schönfließ, die wie eine Industriebaracke im Feld zwischen Wäldern steht, sitze auf der Treppe der wegen Einsturzgefahr gesperrten Gleisbrücke, denke daran, wie ich in die Bahn steigen werde, wie die Zeitung der ersten Fahrgäste auf dem Weg zur Arbeit riechen wird, wie ich zu Hause in meinem Sessel wieder Ruhe finden werde, den Charlie Parker raussuche, den frühen, der die Angewohnheit hatte, das härteste Blatt in das Mundstück seines Saxofons zu stecken, denke daran, wie ich müde werde, und wie die Luft sich mit dem Zigarettennebel in meinem Zimmer mischt wenn ich lüfte. Ich rauche, warte und genieße es die Nacht erledigt zu haben.

Jetzt, zuhause, kurz bevor ich ins Bett gehe, mit müden Knochen und dem Ofen neben mir, kühl im Ausklang der Frühsommernacht, will ich nirgendwohin, und selbst wenn mir noch einfallen würde, wohin ich wollen könnte oder wollte, so will ich nicht wollen, und jeder Zuruf „so wolle doch“ würde mich dem Bett näher bringen. Ich bleibe sitzen, bis die Müdigkeit so groß wird dass es zweifelhaft wird ob ich das Bett vor dem einschlafen noch erreichen werde. Dann ist es gut, und ich will zufrieden sein mit dem, was ich geleistet habe.

Das Bier vor dem schlafen gehen wirkt sekundenschnell. Es löst sich im Körper wie am nächsten Morgen die Brausekopfschmerztabletten im Wasserglas. Alkohol ist ein Gift, dessen Moleküle winzig klein sind, kleiner als jeder Eiweisstrang der Blut, Hirn und Säfte stärkt, und sich einmischt, wo immer etwas im Körper geschieht. Auch wenn der Taumel der trunkenen Glieder nicht frei von seiner Wirkung ist, so wird doch klar, welche Macht der Taumel hat. Und als Optimist glaube ich, dass es nicht der Suff ist, der dem Taumel zugrunde liegt, sondern dass die Trunkenheit nur einen Hinweis darauf gibt, welche Möglichkeiten das Material bietet, das direkt zu Füssen liegt, wenn es in Bewegung gerät, oder auch nur, wenn sich zeigt, dass es längst in Bewegung ist.

Neulich saß ich beim Frisör, und die Haare der Kunden vor mir, die auf dem Boden um die Frisörstühle lagen, würden kaum reichen um bei der morgendlichen Rasur im Waschbecken einen ordentlichen Bartschatten abzugeben. Mir war nicht klar, was sie zum Frisör trieb. Vielleicht kamen sie nur, um mal wieder mit einer jungen Frau zu sprechen, während ihre Haare ein paar Millimeter kürzer wurden. Vielleicht sollen die Haare auch möglichst gleich lang bleiben. Ich wartete und schämte mich für das, was passieren wird, wenn ich an der Reihe bin. Ich war der letzte Kunde, alle die noch kamen während ich wartete schickte die junge Frau wieder weg. Zeit bis Feierabend währe noch gewesen, aber die Menge der bei mir anfallenden Haare hätte keinen Platz mehr im Müllbeutel gelassen. Jetzt befürchte ich, dass zu viele Haare auf dem Boden unheimlich wirken können. Mit geschorenen Kopf auf die Straße zu treten und den Wind um die Ohren zu spüren und dabei den Schlüssel im Schloss der Tür des Frisörsalons zu hören ist Eindruck genug um ein paar leichte Schritte nach hause zu genießen, die den Plan, alles anders zu machen, in wonnigem Frühlingslicht erstrahlen lassen.

Vielleicht ist es doch so, dass zwischen den Molekülen ein frischer Wind weht, der manchmal für verblüffende Turbulenzen sorgt, für Momente, in denen nicht klar ist, ob der Boden schwankt oder ich das Gleichgewicht verliere, wie ein Boden, der ganz Wind ist, der den Ort in sich bindet und hin und her wirft. Das, was mir zu Füßen liegt, trägt seine Radikalität in sich, und es reicht mitunter, nicht wegzusehen, um der Sache gerecht zu werden. Der nächtliche Gang nach Schönfliess dient lediglich der Behaglichkeit, und der Gedanke an den Wind, der um die Pfeiler der Gleisbrücke pfeift, wird mich heute nacht ruhig schlafen lassen.

Achim Wendel, April 2008