Rumpelofen 16

Der Dichter Florian Günther hat gestern auf einer Lesung Tequila getrunken und alles falsch gemacht. Er las - und als er mal Pause hatte, weil eins seiner Gedichte von CD eingespielt wurde, kippte er den Tequila, der vor den Manuskripten auf dem Tischchen stand und biss anschließend in die Zitrone. Eigentlich macht man es anders. Man benetzt die Kuhle hinter der Sehne des Daumens der linken Hand, indem man sich dort ein feuchtes kleines Zungenküsschen gibt, streut Salz auf die befeuchtete Stelle, leckt das Salz mit einem weiteren schmatzenden Kuss wieder runter, kippt dann den Tequila und beisst sofort danach in die Zitrone. Die angebissene Zitronenscheibe kommt ins Glas, und beim abräumen wird die nächste Runde bestellt. Florian kippte also den Tequila, biss in die Zitrone, betrachtete ein kleines breites Gefäß, das wie ein Tintenfass oder eine hässliche Parfümflasche aussah, schraubte den Verschluss vom Hals, blickte hinein, befeuchtete seinen Finger und steckte ihn so weit es ging in die Öffnung, was nicht gelang, da sein Finger zu dick war. Er schraubte den Verschluss wieder drauf, stellte das Gefäß zurück neben das leere Tequilaglas mit der Zitronenschale und schaute halblinks oben irgendwo hin. In dem Gefäß war Salz. Auch ich habe es nach der Lesung aufgeschraubt. Auch ich habe meinen Finger hineingesteckt. Auch ich habe versucht, die Lage abzuschätzen. Auch meine Finger sind zu dick, um ans Salz zu kommen. Vielleicht, so dachte ich, könnte es mit dem kleinen Finger einer besonders zarten Frau gelingen, und überlegte, ob ich einen Blick in die Runde wagen soll, um zu sehen, ob jemand anwesend ist, der in Frage käme. Der Gedanke, einen Finger zu finden, in ein Gesicht zu sehen und ein Lächeln wagen zu müssen das der Sache genügt, lies mich rot worden, und ich stellte das Salz zurück wie es schon Florian gemacht hat. Vermutlich weis Florian, wie man Tequila trinkt, und vermutlich hat er einen kleinen Geistesblitz gehabt als er das Salz gesehen hat. Ich habe überlegt, ob er sich überlegt hat, ob die Leute gedacht haben, dass er nicht weis wie man Tequila trinkt. Und ich denke, Florian hat gedacht, jetzt sehen die Leute, dass ich erst jetzt, wo ich das Gefäß aufschraube, sehen kann, dass auch für Salz gesorgt gewesen wäre. Und jetzt, einen Tag später, glaube ich, dass Florian wusste das Salz in dem Gefäß war und er nur versuchen wollte seinen Finger in die Öffnung zu stecken. Das, was wahr ist, und ob es um den Tequila, das Salz, den Finger oder das Lächeln einer Frau ging, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Als Florian später am Abend die Kneipe verlies, fluchte er jedenfalls.

Manschmal wünsche ich mir ich wäre Profi. Als Profi würde ich die Abläufe kennen, auf die es ankommt. Als Profi würde ich den Salzstreuer benutzen können wie es sich gehört, ohne in Verlegenheit zu geraten oder gar rot zu werden. Und ich würde meine Zeit nicht mit all zu versunkenen Blicken auf Dinge des Gebrauchs vergeuden, so, wie es Dilettanten tun, bevor sie den Handwerker anrufen, der die Dichtung im Wasserhahn auswechselt. Ich wünsche mir zu Arbeiten, Geld zu haben und verlässlich zu sein. Ich sitze im Sessel neben dem Ofen und lese Bücher in denen die Regeln stehen mit denen Arbeiten noch effizienter wird. Ich lese, dass ich einen Plan machen soll, mein nicht existentes Handy von Zeit zu Zeit ausschalten soll, nur zwei oder drei mal am Tag emails beantworten soll und einige Stunden für konzentriertes, ungestörtes Arbeiten einplanen soll. Ich lese, das im Plan verschiedene Tätigkeiten mit verschiedenen Prioritäten in verschiedenen Farben eingetragen werden müssen. Immer, wenn ich in den Büchern an diese Stelle komme, bin ich froh, denn ich habe mir extra für diese immer wieder kehrende Stelle vor einigen Jahren in der Kastanienallee in einem Laden für Künstlerbedarf eine besonders hochwertige Packung Buntstifte gekauft, Stifte mit besonders leuchtstarken Farbpikmenten. Ich freue mich darauf, wieder die Buntstifte benutzen zu können, einen ganz neuen eigenen Plan zu haben, und ein paar Tage genießen zu können endlich mal richtig anfangen zu wollen. Und dann, nach den paar Tagen, wenn der Plan in den Klarsichtfolien steckt, sitze ich mit Wonne im Sessel, warte, und erfreue mich meiner Langeweile wie schon lange nicht mehr. Den nächsten Text werde ich wie immer wenige Stunden vor der Lesung schreiben. Bis dahin sind der Ofen und ich ein Team das besser nicht arbeiten könnte.

Retadierende Momente sind nicht jeder Manns Sache. Neben dem Ofen zu sitzen und auszuharren, und sich dabei das, was man schreiben will, so lange es nur irgend wie geht vom Leibe zu halten, ist keine erbauliche Angelegenheit. Die Bücher zur Disziplinierung der Langeweile, zum Gebrauch von Buntstiften und zum professionellen ausharren bis zum Knall genügen mir nicht lange. Ich will den Abstand zu dem was ansteht ganz in mir haben, oder doch zumindest im Ofen bewahren, oder zumindest alles auf den Abstand zum Ofen beschränken, um den Überblick über das bewahren zu können, was sich tut, oder es zumindest gut aufgehoben wissen, wenn es im verborgenen geschieht und sich mir entzieht wenn ich ihm nahe kommen will. Die Arbeit am Umgang mit dem Abstand zu dem was mich betrifft, die Arbeit an Gleichgewichtsfunktionen in dem was mir nahe ist, ist ein Geduldsspiel auf Messers schneide. Ich harre aus, um den negativen Einfluss auf das, was sich ausbalanciert, so gering wie möglich zu halten. In Filmen gibt es immer wieder Szenen, in denen ein Auto am Abhang steht, zwei Räder in der Luft und zwei an Land. Der Held lehnt sich nach hinten und hofft auf einen Windstoß, der die Richtung bestimmt. Für dem Umgang mit Situationen dieser Art hilft kein Machtwort irgend einer Art, kein Verfahren in Lehrbüchern, kein System, keine Skitze mit Buntstiften und Geodreieck, es hilft nur, auszuharren und die Sinne frei zu haben für feinste Veränderungen. In dem Moment, in dem klar wird, ob das Auto fallen wird oder nicht, in dem ich offen bin für das was passiert und freundlich Veränderungen erhoffe, die aus der Situation erwachsen in der ich Stecke, bin ich voll bei der Sache, und frei von dem, was meine Vorsätze zu verhindern wüssten.

Als Informatiker habe ich gelernt, Probleme systematisch zu beschreiben und Abläufe so zu formulieren dass sie völlig hirnlos abgearbeitet werden können. Als Jugendlicher habe ich mal eine Art simplen Roboter programmiert, der Fräsarbeiten erledigen sollte. Der Benutzer gab bestimmte Daten ein, und mit Hilfe meines Programms arbeitete der Roboter. Ich wollte auch mal einen Philomaten bauen. Jemand, den ein philosophisches oder weltanschauliches Problem plagt, wirft eine Münze ein, wählt den Begriff der seinem Problem am nächsten kommt, ähnlich der Wahl einer Zigarettenmarke, und unten kommt eine kleine Broschüre raus die vielleicht wie ein persönliches Horoskop aufgemacht ist und nach einem kleinen feinen Algorithmus aus riesigen Datenbanken Zeug zusammenklaubt. Und ich könnte auch einen Roboter programmieren, der meinen Ofen zerlegt. Der Roboter würde an den Rändern der Kacheln entlang fahren, mit einer Art Säge den Mörtel in den Ritzen entfernen, sich mit Hilfe von Bauplänen einen Überblick über die Anordnung der Steine verschaffen, die Steine wie Kohlen vor dem Plattenregal Stapel und zum Schluss automatisch ein Entsorgungsunternehmen beauftragen. Das Entsorgungsunternehmen würde per email einen Termin unter Berücksichtigung meiner noch fehlenden Outlookterminkalendereinträge schickt. Ein paar Tage später kämen ein paar Arbeiter und trügen die Steine die Treppen runter. Der letzte käme um den Staub mit einem Handfeger zu beseitigen und würde nach Mülltonnen im Innenhof fragen. Es bliebe nichts als das kleine fünf Zentimeter hohe Podest, auf dem der Ofen stand. Ich könnte mit meinen Buntstiften einen Plan machen, der beschreibt, wann ich an diesem Roboter arbeiten will und wann er fertig sein soll. Irgendwann, wenn alles geplant und abgearbeitet ist, wenn ich zufrieden im Sessel sitze und meine Hand nach links fasst, dorthin, wo der der Ofen stand, um nach den Kacheln zu fassen, werde ich Angst haben, das Gleichgewicht zu verlieren, aus dem Sessel zu fallen und auf das Podest zu knallen, so wie einmal, als ich morgens, halb schlafend und noch betrunken, das Fenster öffnete, den Müllmännern „A Ruah is!“ zubrüllte, mich dabei zu weit aus dem Fenster lehnte und beinahe in den Innenhof stürzte. An Schlaf war lange nicht mehr zu denken.

Achim Wendel, Mai 2008