Rumpelofen 7

Es dauert immer eine Weile bis der Sommer beim Ofen angekommen ist. Im Frühjahr heize ich noch unnötig lang und bemerke erst wenn ich es bleiben lasse das es kaum noch einen Unterschied macht ob ich heize oder nicht. Dann bleiben noch Wochenlang die ganzen Utensilien die zum Betrieb des Ofens nötig sind so liegen als wären sie noch immer im Gebrauch. Der Ascheeimer ist manchmal noch im Juni voll und auf dem Boden vor dem Ofen liegt Kohledreck den ich immer noch nicht weggesaugt habe. Dann aber, irgendwann, wenn ich aufräume und Platz brauche, rückt der Ofen in den Hintergrund. Jetzt ist im Ascheeimer eine dicke gerollte Plane, die ich gekauft habe um auf dem Flohmarkt meinen Stand vor Regenschauern zu schützen, und rund um den Ofen lehnen hunderte Schallplatten die ich dort nach ständig wechselnden Kriterien vorsortiert zwischenlagere. Vom Ofen zählt nur noch die Wand, sonst fällt er aus dem bewohnten Bereich des Zimmers heraus.

Es gibt immer wieder Dinge die eine wichtige Rolle im Leben spielen und die dennoch aus dem Blick geraten. Neulich fand ich mein altes Religionsbuch wieder, blätterte darin und bemerkte wie meine Hände zitterten. Es war nicht so dass ich mich einfach nur an weit zurückliegende Dinge erinnerte, sondern ich bemerkte dass ich noch immer der selbe Mensch bin der auch damals das Buch in der Hand hatte. Die Richtung dieser Erinnerung überraschte mich, denn nicht das kleine vergeistigte „ich“ war es das aufgrund einer Begebenheit seine Einbildungskraft bemühte um sich Bilder von Früher zu vergegenwärtigen, sondern ich wurde eingeholt von etwas das ein Teil von mir ist, in jeder Zelle steckt, bei jeder Zellteilung weitergegeben wurde, schlummernd vielleicht, im geheimen aktiv, und nun hervorbricht und zeigt welche Macht es hat. Ich sah den großen Blumenkranz in Herzform wieder, den ich mit Buntstiften ausgemalt habe. Im Kranz steht in frommen Worten dass man für jede gottgefällige Tat ein Blatt des Kranzes ausmalen darf. Ich bemühte mich nach Kräften gute Taten zu vollbringen denn ich mochte es den Kranz auszumalen, aber irgendwann wurde ich ungeduldig, ich war nicht schnell genug mit den guten Taten und wollte unbedingt diesen Kranz ausmalen, was ich auch irgendwann tat, getrieben und einem Zwang folgend. Es war eine Lust, der ich nicht widerstehen konnte. Vermutlich ist das eine Form von Unkeuschheit gewesen, die in diesem Buch als schwere Sünde beschrieben wird, wovon ich aber damals nichts verstand. Mir war klar, dass dies eine Sünde ist, die nur schwer zu erklären ist, weswegen ich sie niemals beichtete, denn wie hätte ich mein Vergehen beschreiben oder auch bereuen sollen, was hätte es genutzt wenn ich zehn Vater Unser Bete und dieser Trieb weiter in mir wohnt.

Wenn ich jetzt über Revolution nachdenke und mich erinnere wie ich das Feuerzeug in den Ofen warf, wenn ich daran denke wie ich mir sogar eine Zukunft als Ofensprengmeister erträume, kommt es mir vor als ob alles nur auf diesen Trieb zurückzuführen ist, der mich das Blumenherz ausmalen ließ, dass mir genau wie damals die Kontrolle entglitt und erst in diesem Moment eine Änderung in sicht war. Vielleicht ist dies ein Grund dafür das die Revolutionäre der Religion skeptisch gegenüber stehen. Revolutionäre sind unkeusche Sünder, und ihre Beteuerung, bei ihren Auseinandersetzungen stets der Sache verpflichtet zu sein, durch die Verhältnisse entstandene Verstrickungen beherzt entwirren zu wollen, sind nichts als sprachliche Unbeholfenheit, denn der Revolutionäre Akt hat keine Worte, er eilt der Begründung voraus, ist geschehen, bevor er erklärt wird, und hat bis dahin nur Parolen, die den Schrecken nehmen sollen. Die Bewegung ist folgende: Ich lösche den Müll der aus dem Ofen geschleudert wurde, ziehe meine Schuhe an, gehe aus dem Haus und kaufe Bier und Zigaretten. Alles andere folgt Jahre später.

Wenn ich durch die Straßen gehe und die Straßennamen auf den Schildern an den Ecken lese, denke ich oft es müsse sich um irgend einen vergessenen Revolutionär handeln, nachdem die Straße hier benannt wurde. Vermutlich gibt es Dutzende von ihnen, und nur noch eifrige Forscher kennen ihre Geschichte. Mitunter sind es ruhige Straßen, ohne Geschäfte und Kneipen, fasst spießig und für Berliner Verhältnisse ungewöhnlich sauber. Einmal erzählte mir Conny dass Anfang der neunziger ein Greis in Weißensee umziehen musste da das Haus renoviert wurde. Er zog auf der selben Etage in die Nachbarwohnung, wo die Renovierung bereits beendet war, aber es war dennoch eine große Sache. Erstbezug, meinte er noch, der Greis wohnte seit den zwanziger Jahren in diesem Haus. Vielleicht wohnen nun die Enkel der vergessenen Revolutionäre in diesen Straßen, vielleicht haben einige noch alte Briefe, die nicht in die Hände von Forschern gehören, die sie dann und wann hervorholen und in den Händen halten, so, wie ich mein Religionsbuch in den Händen hielt, sich dabei vielleicht an Bomben erinnern, die ihr Haus verschont haben, Tee mit Schnaps trinken, sich etwas Denken, es für sich behalten, die Briefe wieder verstauen, und wenn sie dann doch mal jemand nach einem Straßennamen fragt, denn es kann vorkommen, dann werden sie kurz ein paar Worte wissen, die vermutlich wieder verschwinden, nur eben Gewissheit schaffen, ja, es war ein Revolutionär, einer, der zitternd in erster Reihe ging, und dessen Ofen vielleicht noch in einer Wohnung steht, in der jetzt Studenten aus dem Schwabenland Partys feiern, die sich vielleicht auch kurz über die Straßennamen unterhalten, wenn sie sich kennen lernen und Adressen austauschen. Wenn ich nachts unterwegs bin und Pfandflaschen sammle, in einer Hand den verdreckten Beutel und die andere Hand in der Tasche, finden meine Finger schnell das Feuerzeug, das ich immer bei mir habe, auch wenn ich schon lange nicht mehr rauche. Ich könnte mich auf die Partys schleichen, denn wer kennt schon alle Gäste, und nach dem Ofen schauen, Recherchen für den Winter machen, für den Fall, das ich endlich mit meiner Vorliebe für Öfen in die Welt hinaus gehe.

Es ist Sommer und der Ofen hat Pause, die Schallplatten beherrschen das Zimmer. Bis zum Herbst will ich sie weg haben, verkaufen oder in einem unbeobachteten Moment in die Restmülltonne werfen, denn der Nazi untern im Erdgeschoss liegt mir auf der Lauer, er sammelt nicht nur die Bücher, die ich in die Papiertonne werfe, er nimmt auch Volksmusik und Schlagersampler aus den Siebzigern. Wenn es kalt wird, der Körper auf die Kälte reagiert, wenn ich den Ofen wieder häufiger anschaue, werde ich die Plane aus dem Eimer nehmen, in den Keller gehen, hoffen, das niemand die Kohlen geklaut hat, Dreck machen, schneller gehen, langsamer atmen, die Kacheln berühren, hoffen, das alles noch funktioniert, so, als sei der Ofen ein Elektrogerät, das nach längerer Zeit im Schrank den Geist aufgegeben hat, und wenn es dauert, bis die Kacheln warm werden, wird sie wieder kommen, die Ungeduld, die auf die Wärme hofft, die Scham, wenn ich das Feuerzeug zum Anfeuern sehe, und der Ofen wird treu sein, so, wie jeden Winter.

Achim Wendel
Berlin, Juli 2007