Rumpelofen 8

Heute, am neunten September 2007 sitze ich in Spanien unter einem Olivenbaum auf einer weißen Plastikliege mit gelbem Polster, habe meine rechte Schlappe in der Hand und erschlage die Ameisen, die auf der Terrasse nach Frühstückskrümeln suchen. Neben mir liegt ein Lebenshilfebuch, an dem ich Gefallen gefunden habe. Ich habe mir vorgenommen täglich darin zu lesen und überlege die Hörbuchversion ebenfalls zu bestellen, um etwas zur Entspannung zu haben, wenn ich zu Hause wieder im Sessel neben meinem Ofen sitze. Jeder Mensch braucht etwas zur Entspannung. Eine Freundin benutzte hierfür zum Beispiel die Bonus DVDs der Extended Version vom Herrn der Ringe, die sie immer und immer wieder anschaute, eine andere hatte ein zehn CD Paket mit den Ansprachen eines Schweizer Buddhisten an seine Schüler. Zum Einschlafen steckte sie immer mehr oder weniger wahllos eine der CDs in den CD-Player und schlief irgendwann während der mit leichtem Schweizer Dialekt geflüsterten Weisheiten ein. Sie hörte nie zu, was der Meister sprach, und wollte es auch nicht wissen. Sie erzählte, es gäbe ein Schweigegelübde der Schüler im Kloster, so dass die Stimme des Meisters das einzige sei, was sie über Wochen oder gar Monate zu hören bekämen. Einmal lag ich mit ihr im Bett und hörte zu, verband das, was ich hörte mit den Kategorien von Hegels Logik, die damals durch meinen Kopf geisterten, bemerkte, wie ich dem, was in den Schlaf oder zur Gelassenheit führen sollte, etwas entgegen setzen wollte, wofür mir noch die Worte fehlten, und noch bevor mir klar war, was ich tat, rief ich in das stockdunkle Zimmer, in dem nur das kleine rote Pünktchen des CD-Spielers zu sehen war laut „Bullshit“, und die Nacht war verdorben. Es brauchte Wochen bis ich wieder mit ihr zusammen im Bett liegen und dem Meister lauschen durfte. Ich habe mit meinem Arzt über solche Vorfälle gesprochen. Er gab mir eine CD vom Muskelmeister Jakobson, damit ich lerne Anspannung und Entspannung zu meinem Wohl zu verbinden. Nach wenigen Minuten begann ich zu Zucken und zu Grunzen und versuchte die Arme vom Körper abzuschütteln.

Morgen schon wird die Terrasse hier Vergangenheit sein und ich werde meinen Ofen wiedersehen. Ich möchte, dass es ein guter Winter wird. Kurz vor der Abreise habe ich aus der Küche den Heizlüfter geholt und auf die Sessellehne gestellt, die die Seite des Ofens berührt. Ich habe ihn angeschaltet, aber gleich wieder ausgemacht, denn es war noch nicht so weit, es machte noch keinen Sinn, die warme Luft gefiel mir nicht. Ich habe mir einen Heizplan überlegt, während ich am Strand auf und abging, ein Plan, mit dem es diesen Winter klappen wird, denn ich liebe Pläne und diesen ganz besonders. Mit diesem Plan wird es gleichmäßig warm in meiner Wohnung sein, so dass ich spätestens im Januar den Heizlüfter von der Lehne nehme und zurück in die Küche stelle, ganz einfach weil er überflüssig ist. Der Ofensetzer war schon da und hat den Ofen gereinigt, das Ding zieht also wieder, wenn ich loslege.

Es ist meine Art mit Plänen nach dem Glück zu jagen. Einer meiner ersten Pläne ist ebenfalls am Strand entstanden, nämlich am Strand von Amrum, einer Nordseeinsel die ich als Kind mit meinen Eltern besuchte. In der Ferienwohnung lag auf dem Küchentisch ein Plan mit den Zeiten von Ebbe und Flut, mit dem es möglich war, genau zu errechnen wann die Gezeiten die Muschelbänke freigeben. Die Strandbesuche wurden nach diesem Kalender ausgerichtet, um als erster Strandgänger die Muschelbänke zu durchkämmen. Die Muscheln kamen in eine Dose, wurden zuhause mit Hilfe eines Muschelbuches sortiert und dann auf eine große Pappe geklebt, die noch heute im Treppenhaus meiner Eltern hängt. Auf dem Flohmarkt in den Rheinauen in Bonn sammelte ich später Bücher anstatt Muscheln. Mein Ziel war es Klassiker der Weltliteratur für ein oder zwei Mark aus den Fängen kaltherziger Flohmarkthändler zu retten. Ein unsinniges Unterfangen, das nichts anderes als zähe Lasten erzeugt. Bei diesen Jagdzügen fiel mir immer wieder ein Lebenshilfebuch in die Hand das scheinbar millionenfach verkauft wurde, nämlich „Muscheln in meiner Hand“, und immer wenn ich jenes Buch in der Hand hielt, erinnerte ich mich daran, wie ich damals nach Muscheln suchte, stundenlang mit meiner Dose am Strand auf und ab ging, mitunter mit zwei drei Fingern nach etwas griff, dann und wann tatsächlich eine Muschel fand, schaute, ob Stücke herausgebrochen sind oder Seepocken ihre Erscheinung verhunzen, erinnerte mich an den Eifer und das Glück, einen Fund gemacht zu haben, und wenn ich dann dieses Buch in der Hand hielt, war es so, wie wenn ich nach einer Muschel griff, die sich in der Hand als unbrauchbar für die Sammlung erweist, und so wie ich dieses Buch zurück in die Kiste legte, aus der ich es herausfischte, ließ ich damals die Muschel zurück in die Muschelbank fallen und zog weiter.

Mir fallen noch andere Planspiele ein mit denen ich mich auf die Suche machen könnte. Einmal hatte ich den Plan „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ zu lesen und dann ein neues Leben zu beginnen. Nach gut 800 Seiten kam ich nicht weiter, ich steckte fest und ich begreife nicht, wie ich überhaupt so weit kommen konnte. Lustiger war da ein Computerspiel, nämlich „Indiana Jones auf der Suche nach dem Heiligen Gral“, bei dem ein wenige Pixel großes Männchen, Indiana Jones eben, von einem Rätsel in ein anders gesteuert wurde, woraus sich Denkaufgaben mit absurden und witzigen Lösungen ergaben, die mit ebenfalls wenigen Pixel großen Animationen belohnt wurden. Gegen Ende des Spiels musste Indiana Jones eine Schlucht in einer Höhle überqueren. Das Bild bestand nur aus der Schlucht und dem Tunnel auf der anderen Seite, mehr war nicht anzuklicken. Ich saß Tage in dieser Schlucht fest, und viele hundert Mal ließ ich den Helden in die Schlucht stürzen. Die Lösung war beeindruckend einfach: Durch Zufall klickte ich sofort, nachdem Indiana Jones die Schlucht erreichte, auf den Tunnel auf der anderen Seite, und siehe da, er schritt auf einer unsichtbaren gläsernen Brücke hinüber. Der Trick war bestand darin, nicht zu zögern. Ich habe die Situation, nachdem ich die Lösung kannte, genau ausgetestet. Wenn ich weniger als drei Sekunden wartete und in diesen drei Sekunden ohne irgendwo anders hinzuklicken sofort auf den Tunnel jenseits der Schlucht klickte, dann lief Indiana Jones über die unsichtbare Brücke, in allen anderen Fällen stürzte er ab.

Diese drei Sekunden könnten mein Leben auf den Kopf stellen. Würde ich immer nur drei Sekunden zögern bevor ich mich an die Arbeit mache und mitunter jahrelang aufgeschobene Projekte beginnen, säße ich nicht mehr vor der Arbeit im Sessel neben meinem Ofen, sondern danach. Ich wäre nicht mehr erschöpft vom Aufschieben meiner Pläne, sondern erschöpft von der Arbeit. Meine Muskeln würden sich von selbst nach der Anspannung entspannen, ich würde die Wärme des Ofens gelassen genießen, die sich mit der Wärme in den beanspruchten Muskeln verbindet, würde drei Sekunden später im Keller sein, um neue Kohlen zu holen, und ungeduldig den neuen Morgen erwarten, um den Ofen nach Plan heizen zu können. Ich weiß nicht, woran es liegt, dass mir diese so naheliegende Lösung der Spannungen im Verhältnis zu meinem Ofen nicht gelingen will. Ich habe aber einen Verdacht, der sich erst vor kurzem konkretisierte.

Auf der Suche nach Möglichkeiten meine Aquarienfische mit weichem Wasser glücklich zu machen stieß ich auf einen Trick, mit Salzsäure das Leitungswasser zu enthärten. Dazu kippt man ungefähr ein Schnapsglas voll Salzsäure in einen Eimer Leitungswasser, wodurch die Karbonate im Wasser geknackt werden, der Kohlenstoff in ihnen zu Kohlendioxid reagiert und dieses Gas mit einem Quirl ausgetrieben wird. Kippt man zu viel Salzsäure hinein, werden alle Karbonate geknackt und der PH-Wert stürzt ab, man muss also gehörig aufpassen und genau rechnen. Ich saß schon an der Straßenbahnhaltestelle um im Baumarkt Salzsäure zu kaufen, als meine Trägheit den Betrug aufdeckte. Die Straßenbahn hatte zehn Minuten Verspätung, in denen ich mich an einen alten Grundsatz erinnerte, wonach die stärkere Säure die schwächere aus ihren Salzen treibt, die Salze also bleiben, nur mit einer anderen Säure als Wirt, in diesem Fall mit Salzsäure, die die Kohlensäure ablöst, wodurch zwar die Karbonarthärte sinken würde, die Gesamthärte aber gleich bliebe, und es ist zweifelhaft, ob den Fischen dieser Tausch des Säurewirts bekommen würde.

Wenn ich ähnlich die Chemie des Verhältnisses zwischen mir und dem Ofen durch Anwendung der Drei-Sekunden-Regel verändern würde, wäre der neue Zustand nicht nur optisch kaum von dem davor zu unterscheiden wäre. Beide Male würde man mich im Sessel sitzen sehen, einmal stets vor der Arbeit, einmal, nach der Drei-Sekunden-Revolution, stets danach. Nur sehr erfahrene Beobachter würde Nuancen in meinen Gesichtszügen und der Armhaltung bemerken. Doch in Wahrheit ist es nur so, wie wenn meine Stammkneipe einen neuen Wirt bekommt, einen guten, versteht sich, einen, der es versteht die Stammgäste zu halten, einem, dem ich erzählen könnte, dass ich jetzt viel mehr arbeite, dass ich mit meinen Plänen voran komme, und der es sich ebenfalls abgewöhnen würde zu fragen, was aus der ganzen Sache geworden ist, all dem Zeug, das mir wichtig ist und in meinem Gemüt nach wie vor hin und her schwimmt, hin und her, immer weiter, wie die Fische im Aquarium, deren chaotisches Verhalten man studieren könnte, und immer dann, wenn man eine Regel gefunden zu haben glaubt, kippt alles, wie im rechten Chaos üblich, durch einen leichten Wink in einen neuen Zustand, in dem es wieder weiter geht, als sei nichts geschehen.

Es muss noch einen weiteren Grund dafür geben, der mich davon abhält es mit der Drei-Sekunden-Methode zumindest einmal zu versuchen. Sicher man könnte Angst vor Misserfolgen anführen, oder die natürliche Neigung, Anstrengungen aus dem Weg zu gehen, oder Auseinandersetzungen zu scheuen. Diese professionellen Erklärungen hängen mir zum Hals heraus, und auch die professionelle Antwort darauf, das diese Abneigung gegen professionelle Antworten in diesen Antworten zur Genüge erörtert wird, also nichts anders ist als ein listiger Winkelzug zur Rechtfertigung der heiklen Lage, ändert nichts an eben dieser meiner Abneigung, die aus Schichten kommt, die einem nüchternen, planvollen Sezieren des Verhältnisses zu meinem Ofen nicht zugänglich sind. Es verhält sich mit diesen Argumenten ganz ähnlich, wie mit den Gedanken, die bei Meister Jakobsons Muskelübungen kommen und gehen wie, so heißt es auf der CD, Wolken, die vorüberziehen. Ich habe die Befürchtung, das mich Erklärungen in der Nachfolge Freuds um die Liebe zu meinem Ofen bringen könnten. Ich habe die ganz konkrete Befürchtung, um diese Liebe betrogen zu werden, so wie ein Traum zerfällt, meinetwegen der von der blauen Blume, wenn sein Reiz auf die Erklärungsmacht des Sexualtriebes überspringt. Diese Liebe zu meinem Ofen scheint mir von ähnlicher Struktur zu sein, wie die des Glücks, das sich meinen Plänen entzieht und sich eher in der Hoffnung zeigt, die ich mit den Plänen verbinde, mit dem viel beschworenen Scheitern und in der Lust, auszuweichen, wenn Arbeit ansteht. Dieses kleine Glück, das in der Freude an der List liegt, mit der man das Zögern gestattet, macht es so behaglich neben dem Ofen. Es scheint mir menschlicher zu sein, als das große Glück der Pläne, liebenswerter, und von verblüffender Stabilität, einer Stabilität, die, so hoffe ich, eine Liebe tragen kann. In einer Geschichte die ich in einem Sammelband las hieß es, das Glück bestünde darin, sich einen Wusch, den die gute Fee gewährt hat, aufbewahren zu können. Wenn ich in meinem Sessel sitze ist es so, als würden sich die großen Vorsätze und Pläne verkapseln, immer weiter verschließen, sich ganz ins Innere dieser Kapseln ziehen, Einheiten bilden, und in den Wortschatz übergehen, mit denen ich in der Kneipe das Gespräch mit dem Wirt beginne. Vielleicht würde einiges von dem was ich mir vornehme sogar in Vergessenheit geraten, bewahrt für eine Ahnung, die dann und wann aufkommt, die das Glück im Ofen vermutet, unstetig warm gehalten von den Kohlen, umspielt von Luft und getrieben durch die nun frisch gereinigten Züge.

Manchmal, wenn mir die Liebe zu meinem Ofen nicht mehr genügen will, der Muff in der Wohnung unerträglich wird, mir der Kohlestaub auf den Büchern ins Auge fällt und mich ärgert, erinnere ich mich an die Drei-Sekunden-Regel, und daran, dass im Ofen etwas verborgen liegt, das es zu bergen oder aufzubrechen gilt, und ich erinnere mich daran, wie ich das Feuerzeug in den Ofen warf, drei Sekunden wartete, bis es explodierte, und hoffte, dass die revolutionäre Variante der drei Sekunden Methode, denn um nichts anderes als eine Variante handelt es sich, etwas von dem ans Licht bringt, was mein Leben ändern könnte. Letztendlich war es der Knall, der mir in die Glieder fuhr, der ganze Müll hingegen, den ich zuvor in den Ofen warf, liegt mir nun wieder zu Füßen. Der Knall schärft den Blick für das Material, und das ist die eigentliche Überraschung, mit der man arbeiten kann.

Jetzt, im Sommer, scheint mir Nüsse knacken ganz ähnlich. Ich mag keine Nüsse, denn ich kenne mich. Ich werde die Nussschalen ewig nicht wegräumen. Nussschalen auf dem Tisch sind auch nur ein Haufen Müll.

Achim Wendel, September 2007