Rumpelofen 9

Im Philosophischen Seminar A der Uni Bonn gibt es seit vielen Jahren eine Tür an der zwei Zettel kleben. Auf dem einen steht „kein Eingang“ und auf dem anderen „kein Ausgang“. Jeder, der häufiger im Seminar ist weiß, dass diese Tür verschlossen ist und hat vermutlich schon vergessen sich über die Zettel zu wundern. Nur wenn Leute aus anderen Bereichen der Universität kommen um mit einem Kollegen zu sprechen oder in der Bibliothek ein Buch einzusehen dass sie bei den Philosophen vermuten kommt es vor, dass jemand mit zügigem Schritt den Gang entlang läuft und beherzt die Klinke dieser Tür drückt, dabei durch den Schwung des Schritts mit seinem Oberkörper und Kopf der Milchglasscheibe der Tür sehr nah kommt, einen Moment innehält und die Zettel sieht. Doch bevor er eine Beziehung beider Zettel zueinander aufbauen kann, geht er weiter.

Die Universität Bonn ist ein Schloss mit Park. Reisegruppen und Japaner kommen und lassen sich die Geschichte des Schlosses erzählen, machen Photos, weichen den Fahrradfahrern aus, denken daran eine Runde um die Hofgartenwiese zu laufen und verlassen den Schauplatz ohne zu wissen, wie es im Gebäude aussieht. Ich vermute das es niemanden gibt der alle Gänge und Winkel dieses Hauses kennt, außer vielleicht dem Hausmeister, der spät abends seine Runde macht. Aber auch der wird vielleicht nur die Tür zu den einzelnen Seminaren abschließen ohne zu wissen was für verwinkelte Gänge sich dahinter befinden. Alle anderen Leute sind Spezialisten für die Gänge ihres Instituts.

Oft habe ich mir überlegt wie es wäre wenn man die Zettel entfernen würde und die Tür aufschließt. Vermutlich wäre es so, dass Neulinge, wenn sie das Seminar verlassen wollen, diese Tür öffnen und sich in der Bibliothek wiederfinden, die Hilfskraft vorne am Pult ihnen Zuruft, dass dies nicht der reguläre Eingang ist und sie bittet doch die Bibliothek hier vorne wieder zu verlassen. Vielleicht würde jemand der über diesen Vorfall ins Grübeln gerät auf dem Weg aus dem Seminar erneut diese Tür öffnen, erneut in der Bibliothek landen und erneut von der Hilfskraft ermahnt werden. Und wenn ich mit einer gewissen Schadenfreude an meine Zeit in Bonn zurückdenke stelle ich mir vor, wie alle die zum ersten mal in dieses Seminar geraten zugleich in dieser Schleife landen. Sie betreten die Bibliothek und verlassen sie wieder, und bevor sie aus dem Seminar raus sind finden sie sich schon wieder in der Bibliothek. Sie können beim ersten mal wenn sie diese Runde drehen sich zur Ausleihe registrieren lassen, doch irgendwann werden sie nur noch im Kreis gehen, werden wieder und wieder den Ausgang verpassen, rein und raus, rein und raus. Wer sich draußen wähnt ist in Wahrheit noch immer drinnen, ein Kommen und Gehen im Bauch eines Wales, eine Betriebsamkeit, die schwindlig macht, und ich befürchte, dass kaum einer, der aus Neugier in diesen Kreislauf geraten ist, bemerk, was für ein böses Spiel mit seiner vermeidlich freien Geisteskraft gespielt wird. Die einzige Unterbrechung die mir dann in den Sinn kommt ist die, dass endlich mal jemand im Taumel auf den Boden kotzt, und der Fladen aus Mensaessen und Rotwein dermaßen zum Himmel stinkt, dass im Zuge der Reinigungsmaßnamen das Seminar geräumt werden muss. Ich stelle mir vor wie die Ganze Bande dann vor dem Copyshop an der Ecke des Hauptganges steht und darauf wartet, dass die Putzkolonne fertig ist, dabei dass vor einigen Jahren eingerichtete Rauchverbot im Gebäude verflucht und friert, denn es ist kalt im Schloss. Vermutlich ist es besser zur eigenen Sicherheit die Zettel dran zu lassen und die Tür verschlossen zu halten. Die Mitteilung auf den Zetteln wirkt, noch bevor sie verstanden ist. Kein Eingang. Ein freundlicher Wissenschaftler könnte dem Neuling raten: „Verlassen sie das Seminar bitte eine Tür weiter“.

Innen und Außen zu verorten ist keine einfache Angelegenheit. Es ist so wie zu versuchen das Innere einer Kartoffel zu finden indem man sie in immer kleinere Stücke schneidet. Das einzige was man dabei lernen kann ist dass jedes Kartoffelstück das Zeug dazu hat weiter zerteilt zu werden. Man sollte tunlichst aufhören wenn die Stücke die richtige Größe für den Eintopf haben. Der Verdacht, dass man dem Wesen einer Kartoffel nahe kommt indem man durch Teilen in sie hinein zu blicken versucht scheint mir dennoch interessant. Ich erinnere mich an den einen Weltraumfilm, ich glaube es war Star Wars, in dem der Held auf einem außerirdischen Reittier durch eine Eiswüste ritt. Das Tier machte irgendwann schlapp und verstarb. Der Held schnitt dem Tier den Bauch auf und kroch in die herausquellenden Gedärme des Tieres um nicht zu erfrieren – und überlebte. Ich denke man vermutet in allen Dingen einer derartige Wärmequelle wenn man nach ihrem Wesen sucht. Sonderbarerweise sind es oft Dinge die eklig oder schockierend sind, die einem dabei in den Sinn kommen. Ich denke an Urschleim und Vulkane, an Speichel und Krampfadern, an Leber und Niere, Blutlachen und Schuppen, Sperma, Rotz und Kot, und ich denke an Vertrautes und an Peinlichkeiten, die hinter verschlossenen Türen zu meinem Alltag gehören und die mich bei anderen Menschen anwidern würden.

Auch das innere meines Ofens, die Züge und Kammern, stelle ich mir wie Gedärme oder Gänge vor. Ich dichte dem Ofen Leben an, um die Behaglichkeit der Wärme zu steigern. Ich habe keine Ahnung wie es im inneren meines Ofens aussieht. Nur der Ofenbaumeister wird es wissen, mein eigentlicher Hausmeister. Überhaupt habe ich die Neigung schnell persönliche Beziehungen zu Dingen aufzunehmen, und ihnen dadurch ein anderes Gewicht geben. Mein Zimmer ist voll von solchen Dingen, und es fällt mir schwer den Blick von ihrem vermeidlichen Wesen wieder auf harte Fakten zu lenken, zum Beispiel, dass ich bestimmte Bücher nie lesen werde, dass ich zu viel Geld für Schallplatten ausgebe und dass die Papiere und der Müll auf dem Wohnzimmertisch entsorgt werden müssen. Ich neige zu Vertrautheit, um mich zu besänftigen. Aber es gibt Tage, an denen es mir nicht gelingt still zu sitzen. Ich gehe auf die Straße und komme wieder zurück. Ich sehe den Müll in meinem Zimmer und mache das Fenster auf. Das Zeug ist Geladen von den vielen Blicken, die es mir vertraut machen sollen, und das einzige Ding in meinem Zimmer dem ich ein Dickes Fell zutraue ist mein Ofen.

Wenn jemand ein Dickes Fell hat meint dies nur auf den ersten Moment das man mit einem Messer kommen kann und die Haut sich beim Versuch sie zu zerschneiden zäh ist. In Wahrheit heißt es, dass diese ganzen Turbulenzen die das Leben so mitbringt gut gefangen sind, keine Raserei zu befürchten ist und die Organe weiter funktionieren ohne Krebsgeschwüre zu bekommen. Letztendlich lässt sich in dem ganzen Kram in meinem Zimmer auch nichts wirklich bedeutsames finden, und wenn ich das Zeug in den Ofen werfe, das Feuerzeug hinterher, dann weiß ich schon das es nicht brennen wird. Es soll auch nicht brennen, es soll knallen, und der Rotz der mir nach dem Knall zu Füssen liegt, der hat seine erdachte Ladung verloren, ist Müll, der entsorgt gehört, ist, so wie er aus dem Ofen flog. In der Bewegung aus dem Ofen wird es zugleich von innen nach außen gekehrt, hat sein natürliches Gewicht zurück, hat seine vermeidliche Leichtigkeit oder sättigende Schwere eingebüsst, von der einige hoffen, dass sie einen ernähren kann, ist pures angekokeltes Material, und wenn ich dann zittere dann ist es die Kälte, die ich spüre wenn mich jemand aus den Gedärmen reißt.

Immer noch habe ich Pläne mit meinem Feuerzeugtrick in die Welt hinaus zu gehen. Schließlich ist Berlin eine pulsiernde Stadt. voller Leben, Energie, Touristen, Arbeitern und Künstlern. Die Feuerwehren rasen von Einsatz zu Einsatz, und ich halte mir die Ohren zu wenn ich daran denke was alles passiert sein könnte. Bestimmte Bereiche liegen nach wie vor außerhalb meines Horizontes. Lange war es so dass ich bestimmten Menschen nur dann begegnete, wenn ich meine nächtlichen Spaziergänge so weit ausdehnte, dass ich mit der ersten U-Bahn am Morgen nach Hause fuhr und sie auf dem Weg zur Arbeit traf. Wenn ich nun vor die Tür gehe, will ich mich auch an die Arbeit machen, als Ofensprengmeister. Ich werde das Computersystem der Ofenbaumeisterinnung knacken um an die Kundendaten zu kommen Ich werde durch die Straßen ziehen und auf einem Notizblock festhalten wann die Leute zur Arbeit gehen und wann sie zurückkommen. Ich werde klingeln, um Reklame für billige Importkohle zu verteilen. Ich werde ein T-Shirt einer Ofenbaufirma fälschen. Ich werde um Kaffee bitten und währen die Hausfrau in der Küche hantiert das Anmachholz testen. Ich werde den 20er Block Feuerzeuge, den ich einem Bettler in der S-Bahn abgekauft habe, aus meinem Stoffbeutel holen und ein Feuerzeug in den Ofen werfen und möglicherweise testen, ob die Klappen des Ofens ordentlich schließen. Ich werde mich rasch entfernen und die Sache auf sich beruhen lassen. Wenn ich wieder auf der Straße stehe und die Feuerwehr höre werde ich mir endlich nicht mehr die Ohren zuhalten müssen, denn ich bin dem, was vor sich geht, ein Sück näher gekommen, und die Sirene klingt vertraut wenn sie mir durch Mark und Bein geht und in die Nebenstraßen drängt.

Achim Wendel, Oktober 2007